Vietnams tödliches Erbe | Neue Zürcher Zeitung | 2010

Am 30. April jährt sich zum 35. Mal der Fall der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon und damit das Ende des Vietnamkriegs. Auch heute sind grosse Teile des Landes noch immer mit Blindgängern verseucht.

Neue Zürcher Zeitung | International | 30.4.2010

Der Tag, an dem der Krieg zurück ins Leben von Le Kien kam, begann wie mancher andere auch. Der Bauer bestellte Reisfelder und einen Gemüsegarten. Täglich ging er hinaus zur Arbeit. Auch an jenem Tag vor zwanzig Jahren. Le Kien arbeitete im Gemüsegarten, seine vierjährige Tochter spielte nicht weit von ihm. «Sie kam immer mit, wenn ich im Garten zu tun hatte», erzählt Le Kien. Plötzlich gab es einen lauten Knall. Der Bauer hatte mit seiner Hacke eine Streubombe getroffen. «Meine Tochter war sofort tot, und ich war schwer verletzt. Ich hatte die Bombe nicht gesehen. Sie lag ein wenig unter der Oberfläche versteckt», sagt Le Kien.

An der Frontlinie

Der Krieg, dem Le Kiens kleine Tochter zum Opfer fiel, war damals bereits seit 15 Jahren vorbei. Während des Vietnamkriegs war nicht weit von Le Kiens Haus die Frontlinie zwischen Nord- und Südvietnam verlaufen. 1975 ging mit der Eroberung der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon durch den kommunistischen Norden der Krieg zu Ende. Die amerikanischen Truppen zogen ab. Doch den Bauern an der ehemaligen Front, wie Le Kien und seiner Frau Nguyen Thi Huong, hinterliessen sie ein fatales Erbe. «Unfälle hat es bei uns immer wieder gegeben», erinnert sich Thi Huong. «Nur einen Monat bevor unsere Tochter starb, hatte ein Nachbar bei der Arbeit seine Hand verloren.»

Während des Vietnamkriegs gingen über der Provinz Quang Tri, die nicht einmal so gross ist wie der Kanton Wallis, mehr Bomben nieder als über Europa im Zweiten Weltkrieg. Quang Tri ist die am stärksten mit Bomben verseuchte Provinz Vietnams, doch fast im ganzen Land finden sich noch heute Überreste des Krieges: nicht explodierte Granaten, Panzerminen, Bomben und Streumunition. Leutnant Hoang Trung Ha gehört einer Minenräumeinheit des vietnamesischen Militärs an. «Es würde 200 bis 300 Jahre dauern, das ganze Land von den explosiven Überresten zu säubern», schätzt er. Eine systematische Säuberung nehme das Militär nur bei grossen Infrastrukturprojekten vor.

Im Bezirk Cam Lo, einige Kilometer von der Provinzhauptstadt Dong Ha entfernt, sitzen Dinh Ngoc Vu und seine Kollegen tatenlos in einer kleinen Baracke herum. Vu und die anderen Mitglieder des Minenräumkommandos tragen wie jeden Tag sandgelbe Uniformen und Gummistiefel, doch ausrücken werden sie heute nicht. Es regnet in Strömen. Bei diesem Wetter ist es zu gefährlich, Minen zu entschärfen. Umso mehr wird es danach zu tun geben. «Bei Regen und starkem Wind kommt viel Munition an die Oberfläche», sagt Vu. «Die Leute finden sie, wenn sie auf dem Feld arbeiten.» Dinh Ngoc Vu arbeitet für ein ziviles Minenräumprogramm. Das Projekt Renew kümmert sich vor allem um Fundstücke. Wenn jemand auf seinem Grundstück verdächtige Objekte findet, kann er Vu und sein Team rufen, um sie zu entschärfen.

Auch ohne den Regen, der im Herbst und Winter manchmal tagelang über der Provinz Quang Tri hängt, gibt es kaum andere Beschreibungen als trist für diese Gegend. Zwar sind 35 Jahre nach den Angriffen mit dem Entlaubungsmittel Agent Orange die Pflanzen wieder nachgewachsen, doch immer noch wirkt die Vegetation ausgedünnt, die Bäume sind niedrig, und das Gestrüpp am Strassenrand ist stellenweise ziemlich licht. Die Überreste des Kriegs lagern überall in dieser Erde. «Wenn es sich um Minenfelder handeln würde, dann könnten die Menschen diese Gebiete einfach in Ruhe lassen und andere Äcker bestellen», sagt Vu. Doch in Quang Tri hat der Krieg vor allem Blindgänger, Panzerminen und Streubomben hinterlassen, verteilt über die ganze Provinz. 83 Prozent Quang Tris gelten als verseucht, die Menschen haben keine Chance, die Gefahr zu meiden. «Sie müssen ja weiter ihre Felder bestellen», sagt Vu. «Sie können nur auf das Glück hoffen. Deshalb passieren weiter jeden Monat Unfälle hier in der Provinz.»

Insgesamt sind in der Provinz seit dem Ende des Krieges mehr als 7000 Unfälle mit Blindgängern passiert, über 2000 Bewohner sind dabei umgekommen. Seit einiger Zeit sinken die Opferzahlen und wächst das Bewusstsein für die Gefahren. Neben Renew sind auch noch andere Organisationen in der Provinz tätig. Mit Bussen fahren sie durch die Dörfer und klären die Bewohner über die Gefahren auf. Vor allem Streubomben fordern nach wie vor viele Opfer. Beim Abwurf sind sie in kleine Einzelteile zerfallen und haben sich über die Gegend verteilt. Die einzelnen Sprengladungen sehen aus wie kleine Bälle aus Eisen. «Bombie» nennen sie die Einheimischen. Oft fallen ihnen Kinder zum Opfer, weil die kugelförmigen «Bombies» geradezu dazu einladen, sie in die Hand zu nehmen oder durch die Gegend zu kicken. Doch auch Erwachsene erliegen der Versuchung, die Sprengsätze aufzulesen. Gut ein Drittel der Opfer haben sich beim Versuch verletzt, das Metall zu bergen und an Altmetallhändler zu verkaufen.

Stimme der Opfer

Hinzu kommen diejenigen, die zufällig auf den Sprengsatz treffen, wie es bei Le Kien und seiner kleinen Tochter der Fall war. Seine Frau Nguyen Thi Huong sah die Explosion damals vom Haus aus. Sie rannte zur Unfallstelle, dann kamen Nachbarn und halfen, ihren Mann ins Spital zu bringen. «Als sie mir später sagten, dass meine Tochter tot ist und mein Mann ein Bein verloren hat, bin ich in Ohnmacht gefallen», erzählt sie mit leiser Stimme. «Danach war ich am Ende. Mein Mann lag im Spital, und meine Tochter war tot. Ich wurde depressiv und konnte gar nichts mehr tun für meine Familie.»

Heute hat die Familie noch drei Kinder. Le Kien bekam nach Jahren von einer Hilfsorganisation eine Prothese und kann seitdem wieder arbeiten. Er ist inzwischen so etwas wie die Stimme der Minenopfer Vietnams. Im vergangenen Jahr reisten Le Kien und Thi Huong nach Bali, um an einer internationalen Konferenz für ein Verbot von Streumunition zu werben. Seinen Lebensunterhalt verdient Le Kien immer noch als Bauer. Im knietiefen Wasser der Reisfelder kann er zwar nicht mehr stehen, aber seinen Garten beackert er weiter. «Natürlich habe ich dabei Angst, wieder auf eine Bombe zu treffen», sagt er. «Wir wissen ja nicht, was noch alles unter der Erde liegt.»