Keine chinesischen Fähnchen in Kashgar | Neue Zürcher Zeitung | 2008

Während der olympischen Spiele haben die Sicherheitsmaßnahmen die westchinesische Stadt Kashgar fest im Griff

Neue Zürcher Zeitung | International | 19.8.2008

böl. Das Trottoir vor dem Yijin-Hotel in Kashgar liegt verlassen in der Mittagssonne. Nichts deutet hier mehr auf den Anschlag vor zehn Tagen hin, bei dem kürzlich sechzehn chinesische Grenzsoldaten ums Leben gekommen sind. Nur gegenüber der Wachstation, in der die Soldaten stationiert waren sitzt ein Mann mit Sonnenbrille und mustert eingehend jeden, der in die Nähe kommt. Auf den ersten Blick sieht man nicht viel von der Nervosität, die in Kashgar während der olympischen Spiele herrscht; keine Militärpatrouillen, nicht einmal auffällig viel Polizeipräsenz. Dennoch ist die Anspannung spürbar. In den Bussen, Hotels und Geschäften werden die Taschen kontrolliert, rund um die Stadt sind Kontrollposten eingerichtet worden. An den Flughäfen der Provinz wurden die Sicherheitsmaßnahmen stark erhöht. Schon beim Betreten der Terminals werden jetzt die Taschen durchleuchtet.

Anschläge und Verhaftungen

Drei Anschläge sind in den letzten 14 Tagen in der Umgebung verübt worden. Vor dem Yijin-Hotel wurden Grenzsoldaten beim morgendlichen Lauftraining mit Sprengsätzen beworfen, eine Anschlagsserie in der Stadt Kuqa war so gut organisiert, dass sogar die chinesische Polizei, die seit Monaten vor Anschlägen in der Region warnt, überrascht war.  21 Explosionen sollen sich innerhalb kürzester Zeit dort ereignet haben. Und kurz darauf wurde ein Beamter an einem Strassenposten ausserhalb von Kashgar niedergestochen.

“Gab es Verhaftungen?”  “Ja, die gab es”, sagt einer. “Viele?” Schweigen. Kaum jemand in Kashgar lässt sich im Moment auf Gespräche über Politik ein. “Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung?” “Gibt es hier nicht viele”, erklärt ein Mann. Bereits in den Wochen vor den Spielen soll die Polizei hier viele mutmassliche Unabhängigkeitsbefürworter festgenommen haben. “Davon habe ich gehört”, sagt ein anderer. Genaueres will niemand wissen.

Die Touristen bleiben weg

Kashgar ist das kulturelle Zentrum der turkstämmigen Uiguren, die Chinas westlichste Region, Xinjiang, bewohnen. Eine Unabhängigkeitsbewegung und verschiedene Terrorgruppen, zum Teil mit islamistischem Hintergrund, kämpfen hier gegen die chinesische Regierung. Die olympischen Spiele sind für sie ein Zeitfenster um die Aufmerksamkeit der Welt zu gewinnen – ein Horrorszenario für die chinesische Regierung, die die Spiele nutzen will, um ein starkes und friedliches China zu präsentieren.

In der malerischen Altstadt gehen die Menschen ihren Geschäften nach. Das Hämmern der Kupferschmiede hallt durch die Gassen, Händler bieten Teppiche und Stickereien an, und auf den Karren der Obsthändler türmen sich Weintrauben, Feigen und die die flachen süssen Pfirsiche, die in den Oasen der Wüstenprovinz wachsen. Das touristische Zentrum der Altstadt allerdings ist wie verlassen. Vor allem die chinesischen Touristengruppen, die sonst einen Grossteil der Besucher ausmachen, bleiben weg.

Geschlossene Grenzen

Auch der Handel über die Grenze ist weitgehend zum Erliegen gekommen. “Nach Osch?” fragt ein Taxifahrer, “das geht jetzt nicht.” Die kirgisische Stadt Osch war früher die nächste Station für die Karawanen der Seidenstrasse, heute fahren Lastwagen mit Plastikspielzeug aus China oder Altmetall aus Zentralasien zwischen beiden Städten hin und her. Der Handel mit den zentralasiatischen Staaten und mit Pakistan ist ein wichtiger Wirtschaftszweig in der Stadt. In diesem Jahr allerdings sind die Grenzen für Uiguren geschlossen.

Auf dem Platz des Volkes, dem Hauptplatz der Stadt, neben der überdimensionierten Mao-Statue, hat die Regierung einen Grossbildschirm aufgestellt, auf dem die olympischen Spiele übertragen werden. Kleine Grüppchen stehen davor und schauen zu. Auf den Mauern sitzen Alte und Junge, schauen von Zeit zu Zeit hinüber und unterhalten sich. “Natürlich schauen wir uns die Spiele an”, sagt ein Student. Nur chinesische Fähnchen schwenkt hier niemand.