Berichte aus dem Abgrund | Neue Zürcher Zeitung | 2012

Am Sonntag erhält der chinesische Schriftsteller und Dissident Liao Yiwu den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels Feuilleton Innerhalb eines Jahres ist Liao Yiwu im Ausland zu einem der bekanntesten Schriftsteller Chinas geworden. Sprachmächtig zerrt er die dunkelsten Seiten Chinas ans Licht und verleiht denen eine Stimme, die keine haben.

Neue Zürcher Zeitung | Feuilleton | 13.10.12

Die grössten Kenner von Liao Yiwus Werken dürften nach wie vor einige Damen und Herren in der chinesischen Provinz Sichuan sein. Dort befindet sich das umfangreichste Archiv seiner Texte – die Akten der örtlichen Geheimpolizei. Mehr als eine Million Schriftzeichen Text habe die Polizei im Laufe der Jahre beschlagnahmt, so schätzt er am Ende seines gerade erschienenen Buches «Die Kugel und das Opium». Immer wieder musste er ganze Bücher neu schreiben, weil die Polizei die Texte mitgenommen hatte. Eine Million Schriftzeichen, das dürfte in deutscher Übersetzung sicherlich zweitausend Buchseiten entsprechen.

Dabei sind Liaos Texte keine furiosen politischen Essays. Er agitiert weder für die Demokratie, noch analysiert er die Schwächen der politischen Führung wie andere verbotene Autoren in China. Er interessiere sich für Geschichten, nicht für Politik, sagt er gerne. Doch das muss man nicht allzu wörtlich nehmen. Liao hält die Schicksale von Menschen fest, die unter dem politischen System Chinas zu leiden haben oder mit ihm in Konflikt geraten sind. Seine Werke sind Zeugenberichte aus den Abgründen der chinesischen Gesellschaft, eine Chronik des Unrechts.

Erschütternde Aufzeichnungen

Die bedeutendste seiner Aufzeichnungen ist sicherlich das im vergangenen Jahr erschienene Buch «Für ein Lied und hundert Lieder». Er beschreibt darin seine eigenen Erfahrungen im Gefängnis. Es ist eine schwer erträgliche Gewaltorgie über 500 Seiten. Detailliert schildert er die Hackordnung unter den Gefangenen, die Demütigungen und gewalttätigen Rituale, denen sich Neuankömmlinge unterziehen müssen, den Sadismus der Wärter. Die Personen, die in seinen Schilderungen vorkommen, heissen in der Knastsprache «Mörder zwei» oder «das Diebesgesindel», und so verhalten sie sich auch. Es gibt in diesem Text keine verklärenden Schilderungen von Solidarität unter den Gefangenen, sie sind eine brutale Meute.

Liaos bildstarke Sprache, in der sich ein kalter Wind «wie ein Strick um den Hals» legen oder «der Himmel Fisteln am Arsch» haben kann, offenbart einen nüchternen Blick auf den Menschen. Seine Figuren können ängstlich, brutal und gemein sein, gleichgültig oder verzweifelt. Und doch ist ihre Beschreibung häufig voller Mitgefühl. Diese Abgeschriebenen und Vergessenen bleiben erkennbare Individuen. Sie sind vielleicht keine Helden, aber sie sind es wert, dass man sich an sie erinnert.

Liao hat für dieses Erinnern einen hohen Preis bezahlt. Zwei Ehen haben den ständigen Druck nicht überstanden. Seine erste Frau trennte sich von ihm, kurz nachdem er aus dem Gefängnis gekommen war. Über die gemeinsame Tochter, die jetzt Anfang zwanzig ist, schreibt er, er habe keine zwei Monate mit ihr verbracht. Die gesellschaftliche Ächtung zwang ihn, sich jahrelang als Obdachloser durchzuschlagen. Ernährt hat ihn zeitweise lediglich sein Flötenspiel. Warum schreibt jemand unter diesen Umständen weiter? Warum verstummt er nicht im Angesicht immer neuer Hausdurchsuchungen und Haftandrohungen? «Natürlich ist es schrecklich, wenn du Angst haben musst, für deine Werke ins Gefängnis zu kommen», sagt er. «Aber die grössere Angst ist es, vergessen zu werden. Wenn du aufhörst zu schreiben, dann waren all die Jahre im Arbeitslager vergeblich. Dann hast du umsonst gelebt.»

Liaos Geschichte ist auch die Geschichte einer ganzen Generation von chinesischen Intellektuellen: einer Generation, die in der Aufbruchstimmung der achtziger Jahre voller Tatendrang losstürmte und die durch das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor die Entscheidung gestellt wurde, entweder zu schweigen oder sich mit einem Leben in Angst vor politischer Verfolgung zu arrangieren. Viele haben sich arrangiert. Aber zu den mutigsten Stimmen in China gehören nach wie vor Angehörige dieser Generation. Liu Xiaobo, der Friedensnobelpreisträger, ist der prominenteste unter ihnen.

In den achtziger Jahren blühte in China die Untergrundkultur. Es war die erste Dekade nach der Kulturrevolution. Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Aufbruch liess viele auf politische Reformen hoffen. An den Universitäten herrschte eine lange nicht mehr gekannte Offenheit. Verlage konnten Bücher publizieren, die jahrzehntelang verbotene Themen wieder aufgriffen. Selbst das Zentralfernsehen wagte, in der legendären Fernsehdokumentation «Flusselegie» China als eine «Zivilisation im Niedergang» zu beschreiben.

Chinas Intellektuelle konnten plötzlich über die eigene Geschichte nachdenken, sie konnten westliche Literatur und Philosophie lesen und verschlangen gierig alles, was sich von der Einheitskultur der Mao-Jahre abhob. In Peking und anderen Städten entstand eine Szene von Untergrund-Literaten, die mit Texten und Lebensentwürfen experimentierten, viel stritten und viel soffen und sich auch gelegentlich prügelten und schlugen. Liao Yiwu war einer von ihnen. Als die Proteste gegen die Regierung in Peking begannen, war er in die Auseinandersetzung mit einer rivalisierenden Autorengruppe vertieft. Erst unter dem Eindruck der Panzer ist er zum Dissidenten geworden.

Als ihn die Nachricht erreichte, dass Panzer auf Peking zurollten, schrieb der junge Dichter Liao Yiwu ein Gedicht: «Massaker» nimmt voller Furor und Sarkasmus die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens vorweg. «Schiesst! Schiesst! Auf die Alten, die Kinder, schiesst auf die Frauen! Auf die Studenten, auf die Arbeiter, auf die Lehrer, schiesst auf die Strassenhändler! Knallt sie ab! Knallt sie ab! [. . .] Wahllos knallt sie ab. Wie schön die Gesichter in der schäumenden Flut.» Das Gedicht entstand, so schreibt er es in seinen Erinnerungen, in der Nacht zum 4. Juni in Sichuan, Tausende Kilometer von Peking entfernt, wenige Stunden bevor die Panzer tatsächlich das Feuer auf die Menschen eröffneten – eine Gewaltphantasie, die von der Realität eingeholt wurde.

Liao nahm das Gedicht auf Tonband auf. Die Aufnahme verbreitete sich rasant im ganzen Land und brachte ihm vier Jahre Arbeitslager ein – «Umerziehung durch Arbeit» nennt sich diese Strafe in China. Es war für ihn nicht nur das Ende der Jugend, es war auch das Ende seiner Existenz als Avantgarde-Dichter. Er schrieb danach keine experimentellen Gedichte mehr. Er schrieb nur noch über das, was er gesehen und erlebt hatte: «Im Arbeitslager wurde ich tatsächlich umerzogen», sagt Liao Yiwu. «Ich wurde vom Dichter zum Chronisten, zu einem, der Erinnerungsarbeit betreibt.» Seine Werke sind wortgewaltig, aber nicht fiktional. Die Personen sind echt. «Jilu Wenxue», dokumentarische Literatur, nennt er dieses Genre.

In seinem neuen Buch, «Die Kugel und das Opium», kehrt er zurück zu diesem Wendepunkt in seiner Biografie. Es handelt von den Opfern des Tiananmen-Massakers. Und erneut verleiht er denen eine Stimme, die in China vergessen wurden. Über die Jahre hat Liao Opfer des 4. Juni interviewt. Diese Gespräche erscheinen nun in diesem Band. Aber es sind nicht die Studentenführer und Intellektuellen, die hier zu Wort kommen, sondern einfache Bürger, die damals zur Stelle waren, um sich den Panzern in den Weg zu stellen. Zu Tausenden liess das Regime sie hinterher als «Rowdys» verurteilen – viele zum Tod, andere zu jahrelanger Lagerhaft. Sie wurden meist härter bestraft als die Studenten und Intellektuellen, die den Protest begonnen hatten. In den Artikeln, die im chinesischen Internet und im Ausland publiziert würden, sei immer nur von den Studenten die Rede, sagt er. «Aber die einfachen Leute haben die Hauptlast getragen. Die Zeit ist reif, sich an sie zu erinnern.»

Literarischer Stoff bis ans Lebensende

Kann jemand, dessen Lebensthema so eng mit der Gesellschaft verbunden ist, in der er lebt, im Exil weiterarbeiten? Liao Yiwu hat lange daran gezweifelt. Herta Müller hat kürzlich in einem Interview beschrieben, wie sie ihm 2010 bei seinem ersten Deutschlandbesuch geraten hat zu bleiben. Liao lehnte ab. Nicht einmal ein Jahr später hat er unter abenteuerlichen Bedingungen China doch noch verlassen. Nach dem Friedensnobelpreis für Liu Xiaobo und den Umstürzen in der arabischen Welt kam es in China zu einer lange nicht mehr da gewesenen Verhaftungswelle. Als er sein Gefängnisbuch in Deutschland veröffentlichen wollte, drohte ihm der Staat unverhohlen mit Gefängnis. «Ich bin über fünfzig», sagt er. «Wenn ich noch einmal ins Lager hätte gehen müssen, weiss ich nicht, was passiert wäre.»

Seit seiner Flucht ist Liao Yiwu im Westen, vor allem in Deutschland, einer der bekanntesten chinesischen Intellektuellen. Im vergangenen Jahr erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, nun wird ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. «Ich habe Glück gehabt», sagt er. «Es gibt chinesische Schriftsteller, die kommen nicht raus. Andere kommen raus, können aber im Westen nicht veröffentlichen.» Und nachdem sein erstes im Exil geschriebenes Buch erschienen sei, habe er auch keine Angst mehr vor dem Sprachverlust im Exil. Er werde nun jedes Jahr ein Buch veröffentlichen, kündigt er an. Das Material, das er in 53 Lebensjahren in China gesammelt habe, reiche bis zum Ende seines Schriftstellerlebens.